Predigt von Pfarrer Alfred
Seiferlein
Gnade sei mit Euch und Friede,
von Gott unserem Vater und unserem
Herren Jesus Christus.
Vor vier Monaten – liebe Gemeinde
- war ich mit einer Delegation
unserer bayerischen Landessynode und
mit Landesbischof Johannes Friedrich
in Israel und Palästina. Ziel der
Reise waren weniger die
touristischen Sehenswürdigkeiten,
sondern vor allem intensive
Begegnungen mit Israelis und
Palästinensern, Siedlern und
einheimischen Christen, aber auch
mit Deutschen, die seit vielen
Jahren in Israel leben. Wir sind
Menschen diesseits und jenseits der
neuen Mauer begegnet, ihren
Problemen und Konflikten in der
Gegenwart. Und wir haben ziemlich
schnell verstanden, dass alle
gegenwärtigen Auseinandersetzungen
ihre tiefen Wurzeln in der
Vergangenheit haben.
Zwei Momente dieser Reise bewegen
mich bis heute: Unser erster Weg
führte nach Yad Vashem, der
Gedenkstätte für die Opfer der Shoa.
Im „Tal der Gemeinden“ sind in hohe
quaderförmige Steine die Namen der
vernichteten jüdischen Gemeinden
eingehauen. Aus unserer Region und
unserer Nachbarschaft sind die
Ortsnamen Nürnberg, Treuchtlingen,
Gunzenhausen, Dinkelsbühl und
Ansbach eingemeißelt. Bechhofen an
der Heide steht zwar nicht da,
gehört aber unbedingt mit dazu.
Das zweite, was mich bewegt: Wer
immer Israel und Palästina bereist,
wird sehr schnell in die
leidenschaftlichen
Auseinandersetzungen im Heiligen
Land hineingezogen. Je mehr
Gespräche wir führten, desto
schwieriger war es, überhaupt noch
etwas von den Hintergründen zu
verstehen. Worin liegt die tiefe
Feindschaft, der Hass begründet?
Klar war immer wieder nur, dass der
grundsätzliche Konflikt in diesem
Land seit Urzeiten besteht und
bereits im Alten und im Neuen
Testament als Problem wahrgenommen
wird: Die Aggression zwischen Juden
und Palästinensern und die
Spannungen und Kontroversen zwischen
Christen und Juden. Das bedeutendste
Beispiel für die leidenschaftliche
Auseinandersetzung zwischen Christen
und Juden hat der Apostel Paulus
geliefert. Sein Tonfall ist in allen
seinen Briefen immer wieder davon
gefärbt. Besonders im Römerbrief hat
es Paulus gepackt:
(Lesung Diakonin Schwarz)
Ich sage die Wahrheit in
Christus und lüge nicht, wie mir
mein Gewissen bezeugt im Heiligen
Geist, dass ich große Traurigkeit
und Schmerzen ohne Unterlass in
meinem Herzen habe.
Ich selber wünschte, verflucht und
von Christus getrennt zu sein für
meine Brüder, die meine
Stammverwandten sind nach dem
Fleisch, die Israeliten sind, denen
die Kindschaft gehört und die
Herrlichkeit und die Bundesschlüsse
und das Gesetz und der Gottesdienst
und die Verheißungen, denen auch die
Väter gehören und aus denen Christus
herkommt nach dem Fleisch, der da
ist Gott über alles, gelobt in
Ewigkeit. Amen.
Hier in diesen Briefzeilen -
liebe Gemeinde - werden wir Zeugen
einer dramatischen persönlichen
Auseinandersetzung: Wir dürfen in
die Seele eines Menschen schauen. Da
hat sich einer mit Haut und Haaren,
mit jeder Faser seines Körpers
- einer Idee,
- einem Anliegen,
- ja einem Auftrag verschrieben.
Er ist zutiefst überzeugt, dass
nicht nur er selbst, sondern sein
eigenes Volk und die ganze
Menschheit aus dieser Überzeugung
eine grandiose Perspektive für das
persönliche Leben gewinnen. Für
seine Mission, für seine Sendung
nimmt er Mühsal und Schmähung,
Verleumdung und körperliche
Züchtigung in Kauf. Am Ende seines
Lebens wird er schließlich sogar
dafür den Märtyrertod sterben. Es
gelingt ihm auch, wie kaum einem
anderen in der Geschichte, Menschen
für seine Überzeugung zu gewinnen
und teilweise auch zu begeistern. In
Rom, in Korinth, in Ephesus und in
Thessaloniki. Sein Ziel, dass ihn
seine eigenen Füße bis Spanien
tragen hat er wahrscheinlich nicht
mehr erreicht, aber seine Botschaft
von Jesus Christus fand den Weg auch
dorthin.
Ohne dass er es selbst
beabsichtigt oder wünscht, verehren
ihn viele Menschen. Aber daheim, in
seinem eigenen Volk erfährt er fast
ausschließlich Ablehnung und
Ausgrenzung. Seine Botschaft findet
nur wenig Gehör und kaum Zustimmung.
Teilweise erntet er Hohn und Spott.
Manche zweifeln letztendlich gar an
seiner geistigen Gesundheit. - Ein
tragisches Leben.
Dem Apostel Paulus ergeht es wie
manchen Eltern, die ihr ganzes Leben
ihrem Unternehmen, ihrer Firma,
ihrem Handwerksbetrieb, ihrer Praxis
oder ihrem Bauernhof mit aller Kraft
widmen. Über Jahrzehnte werden
Entbehrungen ganz selbstverständlich
in Kauf genommen, alle Lebensenergie
wird in die Familientradition
investiert. Urlaub bleibt
selbstredend ein Fremdwort über
Jahre hinweg, nur um der einen
gemeinsamen Sache zu dienen. Und
dann verweigert die nächste
Generation die Stabübergabe. Alle
Schinderei, aller Verzicht und alle
Entsagung erscheinen vergeblich
gewesen zu sein. Wer selbst ein
Langzeitlebensziel besitzt, kann
Paulus in seiner persönlichen
Auseinandersetzung mit seinem
eigenen Volk besonders gut
verstehen. Er ist hin- und
hergerissen zwischen Hoffen und
Bangen, flehentlich und resigniert
zugleich schaut er auf sein Volk
Israel. Zugleich aber ist er auch,
wie manche Eltern, ein stolzer
Mensch: „Ich bin ein Jude, geboren
in Tarsus, ein Bürger einer
namhaften Stadt in Cilicien“, so
stellt sich der Apostel Paulus der
Weltgeschichte in der
Apostelgeschichte (21,39) vor.
Paulus ist stolz auf seine jüdische
Herkunft und auf sein römisches
Bürgerrecht. In Streitfragen darf er
sich sogar direkt an den Kaiser in
Rom wenden. „Ich bin ein römischer
Bürger“, das war der stolzeste Satz,
den ein Mensch vor 2000 Jahren
sprechen konnte.
Und der stolzeste Satz, den ein
Jude sagen kann heißt: Ich gehöre
zum Volk Gottes. Zu jenem Volk, dem
die Torah, die Weisung Gottes
anvertraut wurde, und das daher
nicht in den Sternen oder sonstwo
nach Gott suchen muss.
Aber an diesem Punkt wird es
schwierig für Paulus. Seinem
Selbstverständnis nach bleibt er
Glied des jüdischen Volks sein Leben
lang und er wünscht sich sehnlich
und inständig, dass sein Volk Israel
den Juden Jesus von Nazareth als
Christus, als den erhofften Messias
anerkennt und als den Gesandten
Gottes annimmt. Offensichtlich ist
der Apostel von dieser Frage
leidenschaftlich bewegt, so dass er
mit Gott zu verhandeln beginnt. „Ich
selber möchte verflucht und von
Christus geschieden sein meinen
Brüdern zugut.“ Paulus ist bereit
alles dran zu geben, selbst das,
woran sein Herz hängt: Dass er zu
Christus gehört, wenn Israel sich
nur zu Jesus Christus bekennen
würde. Und dass viele aus seinem
Volk das nicht tun können, das
scheint Paulus das Herz zu brechen.
Über Jahrhunderte hinweg
konzentrierte sich die Christenheit
und damit lange Zeit auch die
theologische Wissenschaft auf die
Frage, warum verehren die Juden
Jesus von Nazareth zwar als
gelehrten Gottesmann und erkennen
ihn auch als Rabbi an, aber warum
verweigern sie das Bekenntnis zu ihm
als Sohn Gottes, als Heiland der
Welt, als Erlöser der Menschheit.
Erst in jüngerer Zeit ist deutlich
geworden, dass für uns Christen das
Verhältnis von Christen und Juden
noch weitere wichtige Dimensionen
besitzt. Es ist für unseren
christlichen Glauben entscheidend
wichtig, dass wir uns mit dem
jüdischen Glauben beschäftigen, um
die Wurzeln unserer eigenen
Tradition kennen zu lernen. Es ist
für unser Bibellesen wichtig, dass
wir das Alte Testament als die Bibel
Jesu Christi verstehen und das Neue
nicht ohne das Alte Testament als
Bibel lesen. Und es ist für unser
Selbstverständnis als Kirche
wichtig, dass wir Kinder Gottes sind
nicht an Stelle der Kinder Israel,
sondern nur mit ihnen zusammen.
Psalm 130
Aus der Tiefe ruf ich, Herr,
merk’ auf meine Klage!
Schenke meiner Bitt’ Gehör, eh’ ich
gar verzage!
Rechnest Du die Sünden zu, Herr, wer
wird bestehen?
Kein Gewissen fände Ruh’; jeder müßt
vergehen.
Doch Vergebung ist bei dir, dass man
dich recht ehre
und dich fürchte für und für, nicht
die Schuld vermehre.
Auf dich hoff’ ich, Herr und Gott.
Auf dein Wort ich warte
Sehnlich, wie aufs Morgenroth früh
der Wächter harrte.
Harre Israel des Herrn! Denn er
lässt sich finden. Er
Erlöst, die sein’ begehr’n, noch aus
allen Sünden.
Paulus spricht einmal in einem
wunderschönen Bild von der
Gemeinschaft von Juden und Christen:
Er stellt uns einen Baum vor Augen
und sagt: Wir Christen sind wie ein
wilder Zweig an einem Ölbaum,
abhängig von der jüdischen Wurzel.
Wörtlich:
„Wenn aber nun einige von den
Zweigen ausgebrochen wurden und du,
der du ein wilder Ölzweig warst, in
den Ölbaum eingepfropft worden bist
und teilbekommen hast an der Wurzel
aus dem Saft des Ölbaums, so rühme
dich nicht gegenüber den Zweigen.
Rühmst du dich aber, so sollst du
wissen, dass nicht du die Wurzel
trägst, sondern die Wurzel trägt
dich.“ (Röm 11,17-18)
Es ist ein einzigartiges
geschwisterliches Verhältnis, das
uns Christen mit dem Judentum
verbindet. Paulus zählt die Fülle
der großartigen Gnadengaben, die dem
Volk Israel gehören, beinahe atemlos
auf:
- Gottes Kindschaft,
- Herrlichkeit, das heißt: die
Schönheit, den Glanz Gottes durfte
zuerst Israel sehen
- der Bund, das heißt: Gott bindet
sich mit seinem Versprechen an
dieses Volk
- das Gesetz, das heißt: die fünf
Bücher Mose,
- der Gottesdienst
- und die Verheißungen.
Israel hat alle diese Gnadengaben
mit Eifer angenommen, sagt Paulus.
Einzig und allein die Zustimmung zum
Messias Jesus Christus (Röm 15,7ff)
verweigert es! Paulus aber vertraut
darauf, dass Gott seine Treue, die
er zugesagt hat, nicht zurücknimmt.
Für das Verhältnis von Christen und
Juden ist damit ein unverbrüchliches
Fundament gelegt. Niemand kann dem
Volk Israel diese Gnadengaben
streitig machen, weil Gott für immer
dazu steht.
Entscheidend für uns Christen ist
letztlich nicht die Frage, warum das
Volk Israel noch immer auf den
Messias wartet, sondern die Frage,
welchen Raum wir Christen diesem
Jesus von Nazareth in unserem
eigenen Leben einräumen, und in
unserer Kirche und in dieser Welt.
Viele evangelische Landeskirchen
in unserem Land haben in den
vergangenen Jahren um das Thema
„Christen und Juden“ gerungen.
Unsere bayerische Landessynode hat
mit der Nürnberger Erklärung im
Herbst 1998 ihrerseits einen
bedeutenden Schritt gemacht.
Gemeindeglieder und Kirchengemeinden
wurden eingeladen, sich die
jüdischen Wurzeln des christlichen
Glaubens zu vergegenwärtigen. Wir
hier in Bechhofen nehmen die
Anregungen auf.
Vor drei Jahren etwa hatten wir
hier in unserer Kirchengemeinde die
Ausstellung „Blickwechsel“. Hunderte
von Besucher haben aus der
Perspektive von Jüdinnen und Juden
das Verhältnis von Christen und
Juden angeschaut. Im Gästebuch der
Ausstellung haben zahlreiche
Besucher ihre Erinnerungen
festgehalten. Eine Frau schreibt:
„Ich erinnere mich noch an meine
Kindheit. Wir wohnten neben einem
jüdischen Haus und ich durfte bei
unseren Nachbarn zum Essen sein,
dafür bin ich noch heute dankbar.
Meine Mutter hat auch viel erzählt
vom guten Zusammenleben mit den
jüdischen Mitbürgern in Bechhofen.
So habe ich viel über das Schicksal
der jüdischen Familien erfahren,
z.B. über die Goldbergs,
Steindeckers und Schloß.“ Und ein
anderer Besucher schreibt: „Es ist
schrecklich, was passiert ist. Mir
tut es sehr leid, was damals
geschehen ist. Ich habe ja alles
miterlebt als Zeitzeuge. Genau
erinnere ich mich noch an den Tag
als unsere Synagoge abgebrannt
wurde. Zuvor waren schon die letzten
Juden aus Bechhofen abtransportiert
worden.“
Die verbrecherische Vernichtung
von jüdischem Leben durch die
nationalsozialistischen Machthaber
bleibt eine furchtbare Wirklichkeit.
Der Ungeist dieser Zeit hat
Menschenleben ausgelöscht, Bindungen
zerstört und uns unendlich ärmer
gemacht. Was geschehen ist, wird ein
schmerzende Wunde bleiben.
Umso dankbarer dürfen wir Gott
sein, dass in unserer Gemeinde und
insgesamt in unserem Land
zwischenzeitlich ein neues
Verständnis gewachsen ist. Ein neuer
guter Geist hat sich entwickelt. Den
Weg wollen wir fortsetzen und
konsequent weitergehen.
Und Paulus zeigt uns, wie wir das
auf gute Weise machen können. Die
drei Kapitel im Römerbrief, in denen
er besonders um das Verhältnis von
Juden und Christen ringt, schließt
er mit dem gemeinsamen Lob Gottes
ab:
„O welch eine Tiefe des
Reichtums, beides, der Weisheit und
der Erkenntnis Gottes! Wie
unbegreiflich sind seine Gerichte
und unerforschlich seine Wege! …
Denn von ihm und durch ihn und zu
ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in
Ewigkeit!"
Das gemeinsame Lob Gottes von
Christen und Juden, liebe Gemeinde,
ist eine Alternative zur
Rechthaberei und zum Pochen auf die
eigene Wahrheit. Das gemeinsame Lob
und eine Hoffnung:
Martin Buber, der jüdische
Religionsphilosoph, sagt: „Wir haben
doch viele Gemeinsamkeiten. Ihr
Christen glaubt, der Messias war
schon einmal auf der Erde, er ist
wieder gegangen und er wird
wiederkommen.“ Die Juden glauben,
dass er kommen wird, aber noch nicht
hier war. „Mein Vorschlag“ – fährt
Buber fort – „lasst uns doch
zusammen auf ihn warten und wenn er
kommt, können wir ihn ja selber
fragen, ob er schon einmal hier
gewesen ist. - Und ich werde selbst
in der Nähe stehen und ihm ins Ohr
flüstern: Sag´ nichts!“ In diesem
Geist warten wir nun gemeinsam auf
den Messias – Christen und Juden.
Amen.
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