Prof. Dr. Alfred Seiferlein
Institut für Praktische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Minimalkonses oder universale Geltung?
 
Grundrechte, Grundwerte und die christliche Tradition

In einer pluralistischen Gesellschaft wird vorausgesetzt, daß die Rechte aller Gruppierungen und Individuen mit verschiedenen Wertvorstellungen respektiert werden. Voraussetzung für ein soziales Zusammenleben sind gemeinsame zentrale Werte und Normen oder Verhaltensregeln, die von einer überwiegenden Mehrheit von Individuen und Gruppen getragen werden. Nun erhebt sich zwangsläufig die Fragestellung, ob solche zentralen Werte, Normen und Verhaltensregeln im kulturellen Milieu jedes Menschen bzw. jeder Gruppe vorhanden sind. Aufgrund ihrer vorgegebenen universalen Geltung könnten sie einen Absolutheitsanspruch einnehmen. Für den Fall, daß diese transkulturellen Werte nicht vorhanden sind, müßten sie künstlich geschaffen werden. Ein illustratives Beispiel für künstlich geschaffene zentrale Werte ist die Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen. Hinter der Grundsatzfrage steht die prinzipielle rechtstheoretische Unterscheidung zwischen Naturrecht oder Rechtspositivismus.

 

Begründung von Grundrechten

Grundrechte sind Inhalt theoretischer Betrachtungen unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen, von den Rechts- über die Naturwissenschaften (Gentechnik, Medizin) bis zur Philosophie und der Theologie. Die Grundrechte bestimmen die Rahmenbedingungen des Lebens des einzelnen Menschen ebenso wie das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Die Grundrechte aber sind nicht einfach vorgegeben, sondern sie sind immer davon bedroht, mißachtet zu werden. Gleichwohl sind sie als normative Voraussetzung für ein gestaltetes Zusammenleben zum gegenseitigen Gemeinwohl von primärem Gewicht. Ihre Respektierung und Geltung wird als Indikator für die politische Kultur eines Landes angesehen.

Bei der Untersuchung von Grundrechten können zwei unterschiedliche Wege gegangen werden: Entweder werden die Grundrechte als vorgegebene Dimension betrachtet, die in der Verfassung festgeschrieben sind und die unter allen Umständen von allen respektiert werden müssen, oder aber sie werden verstanden als stets gefährdete, Veränderungen unterworfene dynamische Grundregeln, die es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Die beiden Verständnisweisen besitzen wichtige Aspekte im Umgang mit Grundrechten: Liegt der Ansatz bei der Überzeugung, daß politisches Handeln Veränderungen zum Ziel hat, wird die Betonung bei der Weiterentwicklung von Grundrechten je nach Situation liegen. Steht hingegen die Stabilität im Vordergrund, wird die Unveränderlichkeit von Grundrechten akzentuiert. Ihre Deklaration in Verfassungen jedenfalls ist keine Garantie für dauerhafte Geltung.

Bedroht sind die Grundrechte vor allem deshalb, weil ihre Prämissen und Grundlagen in einer offenen Gesellschaft nicht verbindlich erklärt werden können. Zudem gehen die Grundrechte über den Bereich von Zweckdienlichkeit und Nützlichkeit zur Gestaltung des Zusammenlebens hinaus. Sie dienen als Richtlinie zur persönlichen Lebensführung und als Prinzip für die staatliche Rechtssetzung. Die Grundrechte basieren auf Werten und Normen, die vornehmlich aus der europäischen Geistesgeschichte erwachsen sind, deren wichtigste Quellen das Christentum mit seinem Ruf zur Nächstenliebe, das Naturrecht mit seiner Forderung nach einem menschenwürdigen Leben und die Aufklärung mit dem Verlangen nach individueller Freiheit darstellen. Die Anerkenntnis dieser geistesgeschichtlichen Voraussetzungen kann aber von niemandem zwingend gefordert werden.

Allerdings besitzt die Aufklärung in diesem Zusammenhang einen Grundwiderspruch: Die Forderung nach Toleranz gegenüber allen Diktionen anderer Kulturen gehört ebenso zum Geist der Aufklärung wie das Prinzip der Universalität des autonom denkenden Menschen. Denken und Toleranz gelangen in ein Konkurrenzverhältnis. Damit bricht eine Spannung zwischen der Achtung fremder Kulturen und der menschlichen Vernunft auf. Am Beispiel der Menschenrechte kann verdeutlicht werden, wie die Vernunft in Spannung zur kulturellen Identität vieler Völker steht. Der Anspruch der Vereinten Nationen auf universale Geltung der aus der Aufklärung erwachsenen Grundrechte und die Respektierung anderer Kulturen lassen sich schwerlich ausgleichen.

 

 

Religiöse Dimension der Begründung

Im Bereich der Grundrechte und -werte gibt es einen elementaren Zusammenhang zwischen Staat und Religion. Bis in die Gegenwart hinein ist eine intensive Verknüpfung der Organisation des menschlichen Lebens mit Religion in kaum einer Gesellschafts- und Staatsordnung zu bestreiten; Religiosität gehört zu den Grundphänomenen menschlichen Daseins überhaupt.

Ein interessanter Versuch, die religiöse Begründung von Grundrechten abzulösen, wird von Christoph Müller vorgetragen: Ohne zu verneinen, daß das Christentum bei der Genese des demokratischen Rechtsstaates Pate stand, wird behauptet, daß diese Zusammenhänge durch die gesellschaftliche Entwicklung ihre Bedeutung verlieren: „Soziale Einrichtungen sind nicht notwendigerweise an die historischen Ursachen gebunden, denen sie ihre Entstehung verdanken.". Nachdem diese Strukturen etabliert sind, „kann ihr Weiterleben von Funktionsbedingungen abhängen, die sich von den Entstehungsbedingungen fundamental unterscheiden."

Der moderne Staat mit seiner Verfassungsordnung kann nach dieser Theorie „nur stabilisiert werden, wenn er sich von den religiösen Ursprungsmächten löst, aus denen er herausgewachsen ist." Die Freiheit, die das Christentum in die staatliche Ordnung eingebracht hat, wendet sich nun gerade gegen seine eigene Wurzel: „Die Entstehung eines Grundrechts der individuellen religiösen Gewissensfreiheit beendet diese Abhängigkeit der politischen Organisation von seiner früheren religiösen Basis." Die Gewissensfreiheit stehe zum säkularen Staat in einem komplementären Verhältnis.

In ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich aber zeige das Verhalten der Religionsgemeinschaften, daß sie ihr Erbe selbst nicht realisieren: „Sie neigen dazu, die individuelle Gewissensfreiheit, die sich gegen ihren öffentlichen Anspruch richtet, in ein Grundrecht der Religionsgesellschaften umzumünzen und als Grundlage für einen öffentlichen Auftrag zu verstehen." Die Kirche (Singular!) habe sich trotz des öffentlich postulierten Urheberrechts in Wirklichkeit nicht mit dem demokratischen Rechtsstaat ausgesöhnt. Müller kritisiert die von ihm konstatierte Tendenz des Bundesverfassungsgerichts, „das Grundgesetz von einer die Rechtsordnung überwölbenden Wertordnung aus zu interpretieren."

Als Hintergrund für die Begründung der Rechtsordnung mit religiösen Grundwerten und der christlichen Ethik vermutet Müller ein politisches Interesse: Es gehe um die „Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Eigentumsstrukturen ... mit allen Mitteln juristischer Rabulistik ... vor graduellen Verschiebungen in Richtung auf sozialistische Gesellschaftsstrukturen." Eine alternative Begründung der Grundwerte und des demokratischen Rechtsstaates bleibt Christoph Müller dennoch schuldig. Selbst wenn die staatliche Ordnung sich von ihren Wurzeln gelöst haben sollte und nun autonom existiert, so bleibt doch die Frage nach den Rahmenbedingungen, unter denen diese Ordnung sich weiterentwickelt.

Das wichtigste Argument gegen seinen Versuch, die religiöse Begründung von Grundrechten abzulösen, nennt Christoph Müller selbst: Das demokratische Staatswesen tut sich schwer, selbst Kriterien für den eigenen Entwicklungsprozeß zu formulieren. Soll man dafür ohne Notwendigkeit von Anfang an auf „eine mehrtausendjährige Denktradition" unseres kulturellen Erbes, die „beim Nachdenken über die auflösbaren und unauflösbaren Antinomien des menschlichen Lebens ... im Verlauf der Geschichte der Religion natürlich sehr viele kluge Gedanken" entwickelt hat, verzichten? Gerade im demokratischen Rechtsstaat kann doch keinerlei Zwang ausgeübt werden, von dieser Tradition bestimmte Elemente zu übernehmen.

 

 

Juristische Implikationen

Einen vollkommen anderen Akzent als Christoph Müller setzt aus juristischer Perspektive Ernst-Wolfgang Böckenförde: Er möchte für ein auf Pluralität und Offenheit angelegtes Gemeinwesen nicht auf den Dienst der christlichen Kirchen für einen „integrierenden Fundamentalkonsens, der dem weltanschaulichen und geistig-ethischen Pluralismus und seiner zentrifugalen Tendenz gegenübertritt", verzichten. „Die Kirchen gehören zu jenen Instanzen, die ethisch-sittliche Grundauffassungen und Grundhaltungen für die einzelnen und für die Gesellschaft vermitteln. Sie tun das in gemeinschaftsbildender Weise, indem sie soziale Bindungen erhalten und deren religiöse Grundlegung leisten." Der kirchliche Beitrag zur gesellschaftlichen Konsensbildung stehe zur „allgemeinen Konsensbasis nicht einfach quer." Zu unterscheiden vom Beitrag des Christentums zum gesellschaftlichen Konsens sind für Böckenförde die weitergehenden dogmatischen Ansprüche an den Menschen, die nicht für alle verbindlich erklärt werden können. Die offensichtliche Tatsache, daß nicht alle Menschen diesen weitergehenden Anspruch des christlichen Glaubens für sich persönlich akzeptieren können, sieht der Verfassungsjurist Böckenförde nicht nur im freiheitlichen Rechtsstaat begründet, sondern "es bestätigt nur die biblische Einsicht, daß die Kirche, die ihrer Sendung treu bleibt, der Welt - auch in der heutigen Form von Staat und Gesellschaft - ein Ärgernis ist, ein Zeichen, dem widersprochen wird."

Es bleibt jedem Menschen überlassen, welche Entscheidung, und ob ggf. überhaupt, er/sie für die Begründung von Grundwerten und -rechten vornimmt. In einem demokratischen Staat freiheitlicher Prägung kann diese Begründung der Grundwerte und -rechte nicht allgemeinverbindlich vorgenommen werden. Ihre Letztbegründung, das Fundament der Demokratie und des Rechtsstaates, kann nicht Mehrheitsentscheidungen und auch nicht der politischen Willensbildung unterliegen.

Die Verfassung fordert von den Bürgern des Staates eine ethische Übereinstimmung in Weltanschauungsfragen und gegensätzlichen Interessen. Sie beschreibt den Minimalkonsens, der für das Zusammenleben der Menschen als notwendig erachtet wird. Über den Bildungsauftrag der Schule soll dieser Konsens allen Mitgliedern der Gesellschaft vermittelt werden. Hier wird der Versuch unternommen, die Übereinstimmung in ethischen Fragen der nachwachsenden Generation weiterzugeben - ohne daß ein Kanon dieser zu vermittelnden Haltungen festgelegt ist. Der Rechtsstaat kann von sich aus nur Legalität fordern, bedarf aber eines gewissen Maßes von Moralität für das Zusammenleben seiner Bürgerinnen und Bürger und für seine eigene Existenz. Zudem wird der Staat selbst durch Toleranz- und Neutralitätspflichten gehindert, einen Grundkonsens in ethischen Fragen zu formulieren.

Minimalethik ohne christliche Tradition?

Könnte eine Lösung dieses Konflikts in einer jenseits weltanschaulich-religiöser Verbindlichkeit anzusiedelnde Minimalethik bestehen, die für alle und jeden überzeugend ist und verpflichtend gemacht werden kann. Die einschlägige Diskussion in der Philosophie über das ethische Verhalten des Menschen wie auch diverse sozialwissenschaftliche Forschungen zeigen die grundsätzliche Schwierigkeit, das ethische Denken und Handeln ohne prinzipielle Orientierung verbindlich zu beschreiben. Die philosophisch-politische Diskussion über die Entstehung, Begründung, Funktion des Staates sieht gerade im Fehlen einer gemeinsamen Wertehierarchie in modernen Staaten eines der wesentlichen Elemente dieses Staates. Für viele philosophisch-politische Theorien gilt, daß Politik und Staat sich bewußt sind, keine gemeinsame Wertehierarchie zur Basis zu haben.

Theoretisch könnten allgemeinverbindliche ethische Normen jenseits einer christlichen, buddhistischen, liberalistisch, materialistisch oder sonstwie definierten Weltanschauung abgesichert werden durch jeden individuellen Menschen als soziales Vernuftswesen. Aber hierbei handelt es sich eben auch wieder um eine weltanschauliche Setzung! Sie ist abgeleitet aus dem Ideengut der Aufklärung und der christlich-religiösen Tradition unserer Kultur. Die Definition, daß nur, was nicht ausschließlich für den einzelnen, sondern für alle anderen Menschen gleichermaßen zutreffen soll bzw. darf, von allen in vergleichbaren Situationen getan oder in Anspruch genommen werden kann, uneingeschränkte Geltung und Überzeugungskraft besitzt, unterscheidet sich nicht von den Maximen christlicher Ethik.

 

Dr. theol. habil. Alfred Seiferlein ist Privatdozent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für Praktische Theologie, zugleich Gemeindepfarrer in Bechhofen a.d.Heide und Mitglied der Landessynode.

(Die Anmerkungen sind im Orginalabdruck in den Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Maiausgabe 2000, S. 131-133 zu finden
 

 

 
Minimalkonses oder universale Geltung?
 
Grundrechte, Grundwerte und die christliche Tradition

In einer pluralistischen Gesellschaft wird vorausgesetzt, daß die Rechte aller Gruppierungen und Individuen mit verschiedenen Wertvorstellungen respektiert werden. Voraussetzung für ein soziales Zusammenleben sind gemeinsame zentrale Werte und Normen oder Verhaltensregeln, die von einer überwiegenden Mehrheit von Individuen und Gruppen getragen werden. Nun erhebt sich zwangsläufig die Fragestellung, ob solche zentralen Werte, Normen und Verhaltensregeln im kulturellen Milieu jedes Menschen bzw. jeder Gruppe vorhanden sind. Aufgrund ihrer vorgegebenen universalen Geltung könnten sie einen Absolutheitsanspruch einnehmen. Für den Fall, daß diese transkulturellen Werte nicht vorhanden sind, müßten sie künstlich geschaffen werden. Ein illustratives Beispiel für künstlich geschaffene zentrale Werte ist die Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen. Hinter der Grundsatzfrage steht die prinzipielle rechtstheoretische Unterscheidung zwischen Naturrecht oder Rechtspositivismus.

 

Begründung von Grundrechten

Grundrechte sind Inhalt theoretischer Betrachtungen unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen, von den Rechts- über die Naturwissenschaften (Gentechnik, Medizin) bis zur Philosophie und der Theologie. Die Grundrechte bestimmen die Rahmenbedingungen des Lebens des einzelnen Menschen ebenso wie das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Die Grundrechte aber sind nicht einfach vorgegeben, sondern sie sind immer davon bedroht, mißachtet zu werden. Gleichwohl sind sie als normative Voraussetzung für ein gestaltetes Zusammenleben zum gegenseitigen Gemeinwohl von primärem Gewicht. Ihre Respektierung und Geltung wird als Indikator für die politische Kultur eines Landes angesehen.

Bei der Untersuchung von Grundrechten können zwei unterschiedliche Wege gegangen werden: Entweder werden die Grundrechte als vorgegebene Dimension betrachtet, die in der Verfassung festgeschrieben sind und die unter allen Umständen von allen respektiert werden müssen, oder aber sie werden verstanden als stets gefährdete, Veränderungen unterworfene dynamische Grundregeln, die es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Die beiden Verständnisweisen besitzen wichtige Aspekte im Umgang mit Grundrechten: Liegt der Ansatz bei der Überzeugung, daß politisches Handeln Veränderungen zum Ziel hat, wird die Betonung bei der Weiterentwicklung von Grundrechten je nach Situation liegen. Steht hingegen die Stabilität im Vordergrund, wird die Unveränderlichkeit von Grundrechten akzentuiert. Ihre Deklaration in Verfassungen jedenfalls ist keine Garantie für dauerhafte Geltung.

Bedroht sind die Grundrechte vor allem deshalb, weil ihre Prämissen und Grundlagen in einer offenen Gesellschaft nicht verbindlich erklärt werden können. Zudem gehen die Grundrechte über den Bereich von Zweckdienlichkeit und Nützlichkeit zur Gestaltung des Zusammenlebens hinaus. Sie dienen als Richtlinie zur persönlichen Lebensführung und als Prinzip für die staatliche Rechtssetzung. Die Grundrechte basieren auf Werten und Normen, die vornehmlich aus der europäischen Geistesgeschichte erwachsen sind, deren wichtigste Quellen das Christentum mit seinem Ruf zur Nächstenliebe, das Naturrecht mit seiner Forderung nach einem menschenwürdigen Leben und die Aufklärung mit dem Verlangen nach individueller Freiheit darstellen. Die Anerkenntnis dieser geistesgeschichtlichen Voraussetzungen kann aber von niemandem zwingend gefordert werden.

Allerdings besitzt die Aufklärung in diesem Zusammenhang einen Grundwiderspruch: Die Forderung nach Toleranz gegenüber allen Diktionen anderer Kulturen gehört ebenso zum Geist der Aufklärung wie das Prinzip der Universalität des autonom denkenden Menschen. Denken und Toleranz gelangen in ein Konkurrenzverhältnis. Damit bricht eine Spannung zwischen der Achtung fremder Kulturen und der menschlichen Vernunft auf. Am Beispiel der Menschenrechte kann verdeutlicht werden, wie die Vernunft in Spannung zur kulturellen Identität vieler Völker steht. Der Anspruch der Vereinten Nationen auf universale Geltung der aus der Aufklärung erwachsenen Grundrechte und die Respektierung anderer Kulturen lassen sich schwerlich ausgleichen.

 

 

Religiöse Dimension der Begründung

Im Bereich der Grundrechte und -werte gibt es einen elementaren Zusammenhang zwischen Staat und Religion. Bis in die Gegenwart hinein ist eine intensive Verknüpfung der Organisation des menschlichen Lebens mit Religion in kaum einer Gesellschafts- und Staatsordnung zu bestreiten; Religiosität gehört zu den Grundphänomenen menschlichen Daseins überhaupt.

Ein interessanter Versuch, die religiöse Begründung von Grundrechten abzulösen, wird von Christoph Müller vorgetragen: Ohne zu verneinen, daß das Christentum bei der Genese des demokratischen Rechtsstaates Pate stand, wird behauptet, daß diese Zusammenhänge durch die gesellschaftliche Entwicklung ihre Bedeutung verlieren: „Soziale Einrichtungen sind nicht notwendigerweise an die historischen Ursachen gebunden, denen sie ihre Entstehung verdanken.". Nachdem diese Strukturen etabliert sind, „kann ihr Weiterleben von Funktionsbedingungen abhängen, die sich von den Entstehungsbedingungen fundamental unterscheiden."

Der moderne Staat mit seiner Verfassungsordnung kann nach dieser Theorie „nur stabilisiert werden, wenn er sich von den religiösen Ursprungsmächten löst, aus denen er herausgewachsen ist." Die Freiheit, die das Christentum in die staatliche Ordnung eingebracht hat, wendet sich nun gerade gegen seine eigene Wurzel: „Die Entstehung eines Grundrechts der individuellen religiösen Gewissensfreiheit beendet diese Abhängigkeit der politischen Organisation von seiner früheren religiösen Basis." Die Gewissensfreiheit stehe zum säkularen Staat in einem komplementären Verhältnis.

In ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich aber zeige das Verhalten der Religionsgemeinschaften, daß sie ihr Erbe selbst nicht realisieren: „Sie neigen dazu, die individuelle Gewissensfreiheit, die sich gegen ihren öffentlichen Anspruch richtet, in ein Grundrecht der Religionsgesellschaften umzumünzen und als Grundlage für einen öffentlichen Auftrag zu verstehen." Die Kirche (Singular!) habe sich trotz des öffentlich postulierten Urheberrechts in Wirklichkeit nicht mit dem demokratischen Rechtsstaat ausgesöhnt. Müller kritisiert die von ihm konstatierte Tendenz des Bundesverfassungsgerichts, „das Grundgesetz von einer die Rechtsordnung überwölbenden Wertordnung aus zu interpretieren."

Als Hintergrund für die Begründung der Rechtsordnung mit religiösen Grundwerten und der christlichen Ethik vermutet Müller ein politisches Interesse: Es gehe um die „Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Eigentumsstrukturen ... mit allen Mitteln juristischer Rabulistik ... vor graduellen Verschiebungen in Richtung auf sozialistische Gesellschaftsstrukturen." Eine alternative Begründung der Grundwerte und des demokratischen Rechtsstaates bleibt Christoph Müller dennoch schuldig. Selbst wenn die staatliche Ordnung sich von ihren Wurzeln gelöst haben sollte und nun autonom existiert, so bleibt doch die Frage nach den Rahmenbedingungen, unter denen diese Ordnung sich weiterentwickelt.

Das wichtigste Argument gegen seinen Versuch, die religiöse Begründung von Grundrechten abzulösen, nennt Christoph Müller selbst: Das demokratische Staatswesen tut sich schwer, selbst Kriterien für den eigenen Entwicklungsprozeß zu formulieren. Soll man dafür ohne Notwendigkeit von Anfang an auf „eine mehrtausendjährige Denktradition" unseres kulturellen Erbes, die „beim Nachdenken über die auflösbaren und unauflösbaren Antinomien des menschlichen Lebens ... im Verlauf der Geschichte der Religion natürlich sehr viele kluge Gedanken" entwickelt hat, verzichten? Gerade im demokratischen Rechtsstaat kann doch keinerlei Zwang ausgeübt werden, von dieser Tradition bestimmte Elemente zu übernehmen.

 

 

Juristische Implikationen

Einen vollkommen anderen Akzent als Christoph Müller setzt aus juristischer Perspektive Ernst-Wolfgang Böckenförde: Er möchte für ein auf Pluralität und Offenheit angelegtes Gemeinwesen nicht auf den Dienst der christlichen Kirchen für einen „integrierenden Fundamentalkonsens, der dem weltanschaulichen und geistig-ethischen Pluralismus und seiner zentrifugalen Tendenz gegenübertritt", verzichten. „Die Kirchen gehören zu jenen Instanzen, die ethisch-sittliche Grundauffassungen und Grundhaltungen für die einzelnen und für die Gesellschaft vermitteln. Sie tun das in gemeinschaftsbildender Weise, indem sie soziale Bindungen erhalten und deren religiöse Grundlegung leisten." Der kirchliche Beitrag zur gesellschaftlichen Konsensbildung stehe zur „allgemeinen Konsensbasis nicht einfach quer." Zu unterscheiden vom Beitrag des Christentums zum gesellschaftlichen Konsens sind für Böckenförde die weitergehenden dogmatischen Ansprüche an den Menschen, die nicht für alle verbindlich erklärt werden können. Die offensichtliche Tatsache, daß nicht alle Menschen diesen weitergehenden Anspruch des christlichen Glaubens für sich persönlich akzeptieren können, sieht der Verfassungsjurist Böckenförde nicht nur im freiheitlichen Rechtsstaat begründet, sondern "es bestätigt nur die biblische Einsicht, daß die Kirche, die ihrer Sendung treu bleibt, der Welt - auch in der heutigen Form von Staat und Gesellschaft - ein Ärgernis ist, ein Zeichen, dem widersprochen wird."

Es bleibt jedem Menschen überlassen, welche Entscheidung, und ob ggf. überhaupt, er/sie für die Begründung von Grundwerten und -rechten vornimmt. In einem demokratischen Staat freiheitlicher Prägung kann diese Begründung der Grundwerte und -rechte nicht allgemeinverbindlich vorgenommen werden. Ihre Letztbegründung, das Fundament der Demokratie und des Rechtsstaates, kann nicht Mehrheitsentscheidungen und auch nicht der politischen Willensbildung unterliegen.

Die Verfassung fordert von den Bürgern des Staates eine ethische Übereinstimmung in Weltanschauungsfragen und gegensätzlichen Interessen. Sie beschreibt den Minimalkonsens, der für das Zusammenleben der Menschen als notwendig erachtet wird. Über den Bildungsauftrag der Schule soll dieser Konsens allen Mitgliedern der Gesellschaft vermittelt werden. Hier wird der Versuch unternommen, die Übereinstimmung in ethischen Fragen der nachwachsenden Generation weiterzugeben - ohne daß ein Kanon dieser zu vermittelnden Haltungen festgelegt ist. Der Rechtsstaat kann von sich aus nur Legalität fordern, bedarf aber eines gewissen Maßes von Moralität für das Zusammenleben seiner Bürgerinnen und Bürger und für seine eigene Existenz. Zudem wird der Staat selbst durch Toleranz- und Neutralitätspflichten gehindert, einen Grundkonsens in ethischen Fragen zu formulieren.

Minimalethik ohne christliche Tradition?

Könnte eine Lösung dieses Konflikts in einer jenseits weltanschaulich-religiöser Verbindlichkeit anzusiedelnde Minimalethik bestehen, die für alle und jeden überzeugend ist und verpflichtend gemacht werden kann. Die einschlägige Diskussion in der Philosophie über das ethische Verhalten des Menschen wie auch diverse sozialwissenschaftliche Forschungen zeigen die grundsätzliche Schwierigkeit, das ethische Denken und Handeln ohne prinzipielle Orientierung verbindlich zu beschreiben. Die philosophisch-politische Diskussion über die Entstehung, Begründung, Funktion des Staates sieht gerade im Fehlen einer gemeinsamen Wertehierarchie in modernen Staaten eines der wesentlichen Elemente dieses Staates. Für viele philosophisch-politische Theorien gilt, daß Politik und Staat sich bewußt sind, keine gemeinsame Wertehierarchie zur Basis zu haben.

Theoretisch könnten allgemeinverbindliche ethische Normen jenseits einer christlichen, buddhistischen, liberalistisch, materialistisch oder sonstwie definierten Weltanschauung abgesichert werden durch jeden individuellen Menschen als soziales Vernuftswesen. Aber hierbei handelt es sich eben auch wieder um eine weltanschauliche Setzung! Sie ist abgeleitet aus dem Ideengut der Aufklärung und der christlich-religiösen Tradition unserer Kultur. Die Definition, daß nur, was nicht ausschließlich für den einzelnen, sondern für alle anderen Menschen gleichermaßen zutreffen soll bzw. darf, von allen in vergleichbaren Situationen getan oder in Anspruch genommen werden kann, uneingeschränkte Geltung und Überzeugungskraft besitzt, unterscheidet sich nicht von den Maximen christlicher Ethik.

 

Dr. theol. habil. Alfred Seiferlein ist Privatdozent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für Praktische Theologie, zugleich Gemeindepfarrer in Bechhofen a.d.Heide und Mitglied der Landessynode.

(Die Anmerkungen sind im Orginalabdruck in den Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Maiausgabe 2000, S. 131-133 zu finden
 

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