Zur
Bedeutung der „Werte" in unserer Gesellschaft und
der Rede von ihrer Krise
„Die gegenwärtige
Wertkrise betrifft zwar alle Altersgruppen,
Teilkulturen und Schichten, ist aber für Jugendliche
besonders prototypisch, weil diese einen
Parabolspiegel unserer Gesellschaft darstellen." Zu
diesem Urteil kommt Reinhold Mokrosch; er hat mit
einer „Arbeitsgruppe für empirische Wertforschung"
die Werthaltungen Jugendlicher in einem
großangelegten Forschungsprojekt untersucht.
Zunächst wendet er sich in seiner Auswertung des
Projekts gegen die Auffassung, daß „angesichts des
gegenwärtigen Wertpluralismus und Wertchaos"
allgemein und pauschal von bestimmten Werthaltungen
Jugendlicher gesprochen werden kann. Die Probleme
mit dem Wertpluralismus und den Wertrangfolgen
treffen Jugendliche stärker als Erwachsene, weil sie
sich noch auf grundsätzlicher Orientierungssuche
befinden. Es ist aus diesem Grunde sinnvoll, sich
bei der Frage nach der Wertorientierung besonders
mit der Perspektive der jungen Generation zu
befassen.
Entstanden ist die
Verunsicherung in Wertfragen: (1.) durch die
„Nichtbewältigung des Wertwandels der 70er und 80er
Jahre, (2.) durch Individualisierung und
Privatisierung, Traditions- und Religionsverlust und
(3.) durch sozioökologische und sozialpsychische
Faktoren". Als Beispiele für diese Faktoren nennt
Mokrosch den „Mangel an glaubwürdigen Vorbildern,
politischen Vertrauensverlust, zerrüttete Familien,
Medienüberflutung, ... Bastelbiographien, fehlende
Alltagsorientierung, Mangel an Lebenszielen". Die
gesamte Untersuchung wendet sich gegen platte
Aufforderungen zur Überwindung der Wertkrise. Es
genüge nicht, mit normativen Appellen wieder Mut zur
Erziehung zu verlangen oder sinnvolle Lebensziele zu
proklamieren. Reinhold Mokrosch setzt dagegen sein
Programm der „Ermutigung zum Wahrnehmen, Aushalten
und verantwortlichen Reduzieren von alltäglichen
Wertspannungen"- die Wertspannungen bestehen "z.B.
zwischen privatem Glück und Gemeinwohl,
Selbstverwirklichung und
Gemeinschaftsverwirklichung, Egoismus und
Altruismus, Konsum und einfachen Leben,
Naturbeherrschung und Naturbewahrung, Gewalt und
Gewaltlosigkeit usw."
Die allgemeinen
Aufforderungen zur Besinnung auf Werte sind in
bestimmten gesellschaftlichen Kreisen eine
Zeitstil-Erscheinung. Fraglich bleibt allerdings bei
dieser Aufforderung, welche Werte vermittelt werden
sollen. In der Regel sind es die durch die eigene
Lebensführung proklamierten – aber nicht immer durch
das eigene Handeln umgesetzten Vorsätze.
Selbst wenn die
Benennung einiger Werte, die berücksichtigt werden
sollen, gelingt, dann stellt sich die grundsätzliche
Problematik des Wertbegriffs: „An der Rede vom
Wertverlust läßt sich die Schwäche des Wertbegriffs
zeigen. Werte kann man nicht wie eine Uhr verlieren.
Wer anderen Werteverlust attestiert, meint in der
Regel, daß er bei anderen die Akzeptanz der Werte
vermißt, die ihm selbst wichtig sind. Der fehlenden
Akzeptanz der einen Werthierarchie kann aber
durchaus die Affirmation einer anderen
gegenüberstehen." Der Begriff der Werteerziehung
suggeriert das Mißverständnis, man könne Jugendliche
(Erwachsenensind selten im Blick, obgleich bei ihnen
doch die gleichen Defizite bestehen!) zu Werten
erziehen wie zur Sauberkeit, Ordnung und Fleiß. In
der Religionspädagogik ist längst die Überzeugung
unbestritten, daß niemand zum christlichen Glauben
„erzogen" werden kann. In der Werteerziehung kann es
allenfalls darum gehen, den Schülerinnen und Schüler
tradierte Werte einsichtig und verstehbar zu machen.
Der Weg des Lernens
in Überzeugungs- und Verhaltensfragen geht über
gelebte Beispiele von gelungener Lebensführung und
über die Identifikation mit exemplarischen
Vorbildern. Das Gesamte, was ein Mensch nicht
natürlicherweise kann oder durch Reife- und
Entwicklungsprozesse an Fähigkeiten, Fertigkeiten
und Verhaltensdispositionen von sich aus erhält, muß
er vom ersten Tag seines Lebens an aus Interaktion
mit den Menschen oder Dingen seiner Umwelt erlernen.
Gelernt werden daher auch Einstellungen,
Grundüberzeugungen, Normen und Wertbeurteilungen,
das Umgehen mit Gewissensfragen und mit
Sinnorientierung. Wird von konservativer Seite immer
wieder gefordert, daß die Schule in diesem Bestreben
federführend sein muß, so dürfen bei diesem Prozeß
die Möglichkeiten der Schule nicht überbewertet
werden, sie ist für die Ausbildung von Werten bei
jungen Menschen nur ein Bereich neben den anderen
Feldern, in denen sich junge Menschen bewegen. Dem
Unterricht fällt vor allem die Aufgabe der Reflexion
und Begründung von Haltungen und Handlungsmotivation
zu.
Was Jugendliche sich
unter gesellschaftlichem Zusammenleben vorstellen
und die Entwicklung ihrer Einstellungen, wie z.B.
Toleranz, Kompromißbereitschaft und die Offenheit
für Neues, hängen weitgehend von den Prägungen des
Elternhauses, der leitbildsetzenden Funktion in
ihrem Freundeskreis und dem Einfluß der öffentlichen
Medien ab. Die Persönlichkeitsbildung junger
Menschen wird jedenfalls nur zu einem geringen Teil
durch die schulische Erziehung beeinflußt.
Wer entscheidet über
„die Werte"?
Aus juristischer
Sicht sind „die Werte" ein schwer zu fassender
Bereich. Ernst-Wolfgang Böckenförde macht darauf
aufmerksam, daß es eine „Werteordnung der
Verfassung" im Sinne einer „rational
kontrollierbaren Erkenntnis von Werten ... nicht
gibt." Nicht einmal sei ein „rational begründetes
Vorzugs- und Abwägesystem für konkurrierende
Geltungsansprüche verschiedener, oftmals miteinander
kollidierender Werte" auszumachen. „Freiheit,
Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit,
Selbstverwirklichung, Solidarität, Schutz des Lebens
werden heutzutage als in der Verfassung enthaltene
‘Werte` nebeneinandergestellt, ohne daß gesagt wird,
warum sie ‘Werte` sind und in welchem Rang- und
Zuordungsverhältnis sie und die aus ihnen sich
ergebenden rechtspraktischen Folgerungen zueinander
stehen."
Für Böckenförde
stellt die Berufung auf die Werte lediglich „eine
pluralistische Einigungsformel für etwas (dar), das
im Hinblick auf die Fundierung der staatlichen und
gesellschaftlichen Ordnung einer sinnvermittelnden
Begründung bedarf, ohne daß diese Begründung mit
dieser Berufung selbst schon gegeben ist." Werte
sind nach dieser Definition eine Benennung von
geforderten oder vorhandenen Übereinstimmungen, die
sich je nach gesellschaftlichem Trend verändern und
modischen Strömungen ausgeliefert sind. „Juristisch
gesehen gibt das Verständnis der Verfassung als
Wertgrundlage und Wertordnung nicht die erhoffte
metapositive Fundamentalbegründung." Vor dem
Hintergrund des dynamischen Verständniswandels der
Werte würde die Interpretation der Verfassung bzw.
deren normativer Gehalt der jeweiligen Zeitströmung
ausgeliefert.
Wer entscheidet über
die Werte? Der Staat ist aufgrund der Verfassung
daran interessiert, „Freiheit, Gleichheit,
Gerechtigkeit, Sicherheit, Selbstverwirklichung,
Solidarität, Schutz des Lebens" als Werte zu
vermitteln, aber die Interpretation dieser Werte,
ihre Reihenfolge bzw. ihre Gewichtung können von
Staats wegen nicht festgelegt werden. Das
Grundgesetz und die Länderverfassungen stellen
keinen Katalog über die Rangfolge von Werten auf,
nicht einmal ein fester Kanon ist auszumachen.
Werte in den
Parteiprogrammen
Da der Staat selbst
keine feste Rangordnung von Werten benennt und
benennen kann, ist es notwendig, auf die in der
Gesellschaft vorgenommenen Prioritätensetzungen zu
blicken. Eine Vergleichbarkeit bieten hierbei
insbesondere die politischen Parteien, weil sie in
ihren Programmen grundsätzliche Aussagen zu ihren
Wertvorstellungen treffen. Die programmatischen
Entscheidungen der Parteien sind für andere
gesellschaftliche Gruppierungen, die selbst keine
explizite Wertediskussionen führen, paradigmatisch,
weil die grundsätzlichen Orientierungen (sozial -
konservativ - liberal - ökologisch usw.) auch in
anderen gesellschaftlichen Bereichen bestimmend
sind.
Das Grundsatzprogramm
der CDU vom Februar 1994 nennt als Grundwerte nur
Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.
Grundsätzlich zum Verständnis der Grundwerte wird
ausgeführt: „Die Grundwerte erfordern und begrenzen
sich gegenseitig. Keiner erfüllt ohne die anderen
seinen Sinn. Ihre Gewichtung untereinander richtig
zu gestalten ist Kern der politischen
Auseinandersetzung." Das Grundsatzprogramm der CDU
definiert dann die Grundwerte als universale
Menschenrechte: „Die Grundwerte sind als unteilbare
Menschenrechte nicht auf nationale Grenzen
beschränkt und sind verpflichtende Grundlage für
unsere Außenpolitik."
Genau die drei
gleichen Begriffe wie das Programm der CDU nennt
auch das Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands (SPD) vom Dezember 1989:
„Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die
Grundwerte des Demokratischen Sozialismus. Sie sind
unser Kriterium für die Beurteilung der politischen
Wirklichkeit, Maßstab für eine neue und bessere
Ordnung der Gesellschaft und zugleich Orientierung
für das Handeln ..." Nun mag die Übereinstimmung in
den drei Begriffen, die für die beiden großen
Parteien die Grundwerte definieren, überraschen.
Allerdings bestehen
im Verständnis der Begriffe deutliche Unterschiede:
Während für die SPD zwar „der Mensch als Einzelwesen
zur Freiheit berufen und befähigt" ist, so bleibt er
dennoch auf andere, vor allem auf die Gesellschaft
zur Gestaltung der Freiheit angewiesen: „Die Chance
zur Entfaltung seiner Freiheit ist aber stets eine
Leistung der Gesellschaft." Das Freiheitsverständnis
der SPD setzt Bedingungen voraus: „Freiheit verlangt
Freisein von entwürdigenden Abhängigkeiten, von Not
und Furcht ... Nur wer sich sozial ausreichend
gesichert weiß, kann seine Chance zur Freiheit
nutzen." Das CDU-Programm versteht die Freiheit
dagegen umfassender: Nicht die soziale Absicherung
ist die Voraussetzung, sondern die Begrenzung von
staatlichen Regelungen: „Es ist die Aufgabe der
Politik, den Menschen den notwendigen Freiheitsraum
zu sichern". Nicht - wie bei der SPD - die soziale
Absicherung durch die Gemeinschaft ist die
Voraussetzung für die Freiheit, sondern die
„Verwirklichung der Freiheit bedarf der
eigenverantwortlichen Lebensgestaltung."
Zwei Begriffe
charakterisieren für die Freie Demokratische Partei
Deutschlands (FDP) die Werte: „Wir wollen eine
Rückbesinnung auf die zentralen Werte des
Liberalismus: Freiheit und Verantwortung." Der
Freiheitsbegriff wird von der FDP deutlich radikaler
als von SPD und CDU interpretiert: Während die
anderen Parteien den neuen Herausforderungen mit der
Forderung nach mehr Staat begegnen, setzen die
Liberalen auf „Freiheit als politisches
Gestaltungsprinzip." Die soziale Absicherung als
Voraussetzung für den Gebrauch der Freiheit wird gar
polemisch als „Vollkaskomentalität" gebrandmarkt.
Ein Parteiprogramm
wie es bei den anderen politischen Gruppierungen
vorhanden ist, wurde von Bündnis 90/Die Grünen
bisher nicht verabschiedet. Die letzte umfassende
konzeptionelle Verlautbarung auf Bundesebene stellt
das Programm zur Bundestagswahl 1998 dar. Darin
verzichtet diese Partei auf die Definition von
Werten. Allerdings nennt die Präambel des Programms
folgende Stichworte, die für Bündnis 90/Die Grünen
wichtige Leitvorstellungen für das politische
Handeln darstellen: Als Zielvorstellung wird eine
Gesellschaft definiert, die solidarisch, ökologisch,
multikulturell, tolerant, emanzipatorisch und
friedfertig sein soll. Im Gegensatz zu anderen
Parteien spielt die Freiheit bei Bündnis 90/Die
Grünen eher eine untergeordnete Rolle: Im
Zusammenhang mit den Überlegungen zu den
demokratischen Entscheidungsrechten fordert die
Partei ganz allgemein einen Ausbau der individuellen
Grund- und Freiheitsrechte, ohne diese näher zu
bestimmen.
Für die Partei des
Demokratischen Sozialismus (PDS) stellt der
Sozialismus ein „Wertesystem (dar), in dem Freiheit,
Gleichheit und Solidarität" als die wichtigsten
Koordinatenpunkte bezeichnet werden. Auf eine nähere
Bestimmung des Freiheitsbegriffs verzichtet die PDS.
Es wird nur ausgeführt, daß mit diesen Grundwerten
„menschliche Emanzipation, soziale Gerechtigkeit,
Erhaltung der Natur und Frieden untrennbar verbunden
sind."
Die Analyse der
Programme der im Bundestag vertretenen Parteien
hinsichtlich der Wertvorstellungen zeigt eine
überraschende Übereinstimmung in der
Begrifflichkeit, was die Grundwerte anbelangt.
Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und die
Verantwortung des Menschen für das Gemeinwohl sind
in allen Parteiprogrammen mehr oder weniger
akzentuiert enthalten. Allerdings zeigen sich
erhebliche Unterschiede im Verständnis der Begriffe.
Über die Vermittlung von Werten schweigen sich die
Parteiprogramme aus.
Wertewandel?
Ungeachtet der
Probleme mit der Bestimmung von Werten besitzt die
ethische Fragestellung in unserer Gesellschaft eine
ungebrochene Wertschätzung. Die Diskussion um die
Werte ist als Folge der technologischen Entwicklung
zu sehen. Die Autonomie des Denkens und Handelns ist
zum bestimmenden Kennzeichen der modernen Lebens-
und Wertgestaltung geworden. Der Mensch verfügt
durch die technischen Möglichkeiten über das Ganze
der Welt. Zugleich aber sind die überkommenen Wert-
und Normensysteme bewußt verabschiedet worden.
Während es für den Handwerker des 18. Jahrhunderts
keine Spannung zwischen seiner Tätigkeit und
ethischen Maximen gegeben hat, denn sein Handeln war
schon von vornherein durch die Zwecke des Handwerks
und dem damit verbundenen Tugendkanon moralisch
legitimiert, treten die ethischen Fragen mit der
sich verselbständigenden
wissenschaftlich-technischen Entwicklung aus einem
Handlungszusammenhang heraus und werden nicht mehr
durch eine festgelegte Tradition bestimmt.
Die Entwicklung in
der jungen Generation verläuft parallel: Nicht nur
der wissenschaftlich-technische Fortschritt
unterliegt dem emanzipatorischen Prozeß als Folge
der Aufklärung, sondern ebenso die Erziehung des
Menschen liegt in der eigenen Hand als Gegenstand
menschlicher Reflexion.
Durch die rasche
Entwicklung im wissenschaftlich-technischen Bereich
stellt sich die ethische Frage in verschärfter Form.
Einerseits bieten sich durch neue technische
Möglichkeiten zusätzliche Chancen für eine humane
Gestaltung des menschlichen Lebens, zugleich aber
wachsen auch die Risiken, die z.B. mit
großtechnischen Anwendungen verbunden sind. Für den
Menschen stellt sich die Herausforderung in
doppelter Hinsicht: Ihm muß ein verantwortlicher
Umgang mit den zusätzlichen Möglichkeiten aufgezeigt
und einsichtig gemacht werden, zugleich aber muß ein
Bewußtsein gegenüber den Gefahren der neuen
Opportunitäten gefördert werden, um die daraus
resultierenden Risiken zu begrenzen.
Historische Last
Nicht den
wissenschaftlich-technischen Fortschritt, sondern
einen geschichtlichen Grund für die verstärkte
Diskussion um die Werte erkennt Elisabeth
Noelle-Neumann. Sie sieht aufgrund von Befragungen
ihres Instituts für Demoskopie in Allensbach einen
historischen Grund für den Wertewandel und eine
grundsätzliche Problematik aller Wertevorstellungen:
„Die von den Nazis mobilisierten und ungeheuer
mißbrauchten Werte sind heute diskreditiert.
Gemeinnutz vor Eigennutz, Pflichterfüllung,
Opferbereitschaft, das gilt als altmodisch oder
verwerflich. Es sind aber ganz wichtige, für eine
Gesellschaft unentbehrliche Werte ..." Auf die
Frage, welche Werte renaissancewürdig seien,
antwortete Elisabeth Noelle-Neumann: „Zuerst
Freiheit ... im Sinne von Verantwortung für das
eigene Schicksal, Entscheidungsfreiheit,
Bereitschaft zum Risiko, zur Härte, zum intensiven
Arbeiten."
Anders als Elisabeth
Noelle-Neumann analysiert der oben bereits zitierte
Reinhold Mokrosch einen „Wertwandel des
Wertwandels", aber kein Zurück zu den Vorstellungen
der 50er Jahre: „An die Stelle von Wertabbrüchen
sind Wertverschiebungen und widersprüchliche
Wertemischungen getreten." Jugendliche würden um die
Spannung zwischen Selbstbehauptung und
Selbstentfremdung, zwischen Machbarkeit und
Schicksalsergebenheit wissen. Die Widersprüche seien
menschliche Grundsituationen, in denen sich der
Mensch vor Gott erfährt. Der Mensch aber versuche
seine Widersprüchlichkeit durch Wertemischung zu
harmonisieren.
Von einem
grundsätzlichen Wertewandel kann in unserer
Gesellschaft nicht gesprochen werden, allenfalls vom
Wegfallen einer tradierten Proklamation von
bestimmten Werten. Die Wertemischung führt nicht
automatisch zum Verschwinden der entsprechenden
Handlungsregelungen, deren Ausformung die Werte
sind. Strukturelle und gesellschaftliche
Notwendigkeiten erfordern ein stärker
eigenbestimmtes Leben, aber dieses so geführte Leben
setzt der tradierten Verhaltensvorstellungen mit
ihren festen Rollenkonventionen und
Erwartungshaltungen schwer zu. Die
Individualisierung steht aber keinesfalls
grundsätzlich gegen ein wertorientiertes Leben.
Eigenständige Wertsetzung?
Die ethische
Fragestellung besitzt in verschiedenen Bereichen
Konjunktur. Der wissenschaftlich-technische
Fortschritt und die gesellschaftlichen Veränderungen
führen zu einer neuen Ethikbedürftigkeit der
Gesellschaft. Nicht nur die praktische Philosophie
gewinnt zunehmend an Bedeutung, immer mehr
Wissenschaftsdisziplinen setzen auf eine eigene
ethische Begleitforschung (z.B. Medizinethik,
Technikethik, usw.). Die Frage aber, ob die Ethik
als wissenschaftliche Disziplin überhaupt
Orientierung für die Gegenwarts- und Zukunftsfragen
anbieten könne, muß als umstritten bezeichnet
werden.
Die Ethik greift die
in der Gesellschaft vorhandenen Überzeugungen auf
und sucht sie zu reflektieren. Die philosophische
Ethik bewegt sich in der Diskussion um die
Orientierung für die Gegenwarts- und Zukunftsfragen
im Raum der Wertsetzungen und ist Teil dieser
Auseinandersetzungen. Die Ethik kann, wenn keine
Wertsetzungen vorgegebenen werden, nur die
aufgreifen, die in der Gesellschaft vorhanden sind.
Weil es für die Disziplin keine eigenständige
Wertsetzung gibt, vollzieht die Ethik einen
tatsächlichen oder vermeintlichen Wertewandel
zwangsläufig immer nur mit.
Dr. theol. habil.
Alfred Seiferlein ist Privatdozent an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für
Praktische Theologie, zugleich Gemeindepfarrer in
Bechhofen a.d.Heide und Mitglied der Landessynode.
(Die
Anmerkungen sind im Orginalabdruck in den
Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern,
Juliausgabe 1999, S. 199-202 zu finden)